Mit dem Begriff „Jein“ verbinden viele von uns im ersten Moment eher etwas negatives. Ein „Jein-Sager“ steht oft für eine Person, der es nicht gelingt, eine Entscheidung zu treffen. Motive dafür lassen sich schnell unterstellen: die Angst, dass die getroffene Wahl die falsche sein könnte, dass man sich bei jemandem unbeliebt macht oder ihn verletzt oder dass man sich mehrere Optionen offenhalten möchte, um nur ein paar zu nennen. Auf jeden Fall sind sich viele einig, dass so eine Person kein Selbstbewusstsein hat, keine Verantwortung übernehmen will, kein Rückgrat zeigt, uvm.
Ich persönlich sehe das etwas differenzierter. Für mich sind wir ALLE „Jein-Sager“. Und zwar genau immer dann, wenn wir eine Entscheidung treffen, wenn wir Verantwortung übernehmen, wenn wir für uns selbst und unsere Werte einstehen, wenn wir Rückgrat zeigen! „Das widerspricht sich doch!“ denkst du jetzt wahrscheinlich, aber wie so oft in unserer Kommunikation, unserer Sprache, unserem Denken und unserer Realität ist alles nur eine Frage der Perspektive! Und ich möchte dir gerne meine Perspektive schildern, damit du meine Sichtweise auf dieses Thema erfährst und sich vielleicht auch deine Wahrnehmung verändert.
Für mich ist klar geworden, dass wir alle „Jein-Sager“ sind, als ich damit anfing, meine persönlichen Entscheidungen zu analysieren:
- Wieso hast du dich damals für diesen Job entschieden,
- wieso hast du dieses Auto gekauft,
- wieso hast du diesen Mann geheiratet,
- wieso hast du Streit mit den Nachbarn angefangen, usw.
Wenn ich all diese Fragen nur mit JA oder NEIN beantworten müsste, dann wäre ich gezwungen, sie etwas umzuformulieren:
- Wieso hast du JA zu diesem Jobangebot gesagt? Und wieso hast du NEIN zu dem anderen Jobangebot gesagt?
- Wieso hast du JA zu diesem Kaufangebot gesagt? Und wieso hast du NEIN zu dem anderen Autoverkäufer gesagt?
- Wieso hast du JA vor dem Altar gesagt? Und wieso hast du NEIN zu den 1000 anderen tollen Kerlen da draußen gesagt?
- Wieso warst du bereit, die nervenaufreibende Auseinandersetzung mit deinen Nachbarn in Kauf zu nehmen? Und wieso hast du dich gegen ein Wegschauen entschieden?
Könnt Ihr es erkennen? Seht Ihr, dass in jeder Entscheidung FÜR etwas gleichzeitig auch eine Entscheidung GEGEN etwas anderes steckt? Dass jedes JA zu einer Sache auch ein NEIN zu einer anderen beinhaltet? Oder dass ein NEIN zu etwas gleichzeitig ein JA zu etwas anderem ist? Dass wir immer wenn wir JA sagen auch NEIN sagen! JEIN! 😉
„Ok, das ist ja ganz witzig, auf was du uns da aufmerksam machst, Mariana, aber was soll ich jetzt mit diesen „Wortspielchen“ anfangen?“ wirst du dich jetzt vielleicht fragen.
Ich denke, das ist ein bisschen mehr als nur mit Worten zu spielen. Denn es steckt viel mehr Kraft darin, als man vielleicht im ersten Moment erkennt!
Denn wir fühlen uns oft schlecht, wenn wir jemanden, der uns mehr oder weniger nah steht, mit einem NEIN konfrontieren, und das gilt nicht nur für die sogenannten People Pleaser oder Menschen, die unter FOMO (fear of missing out) leiden. Denn das Wort NEIN ist bei vielen von uns negativ besetzt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ernüchternd wenn nicht sogar enttäuschend es war, als meine Kinder als erstes richtiges Wort „NEIN“ gesagt haben. Aber jetzt bin ich stolz darauf! Warum? Weil meine Kinder früh gelernt haben, im Außen zu Dingen, die ihnen nicht gut taten bzw. die sie nicht wollten, NEIN zu sagen, um damit zu sich selbst und ihren Bedürfnissen JA zu sagen! Ein NEIN nach Außen kann ein JA zu mir selbst sein und meine Integrität stärken. Ich lehne damit nicht nur etwas ab, sondern kann damit für mich selbst, meine Bedürfnisse und meine Werte einstehen. Es ist nur schade, dass uns das NEIN oft übel genommen wird. Denn keiner erfährt gerne Ablehnung. Aber wir sollten nicht vergessen, dass ein NEIN zu äußern, nur der erste Schritt ist. Denn jede Kommunikation ist eine Annäherung aneinander. Wir gehen auf den anderen zu, soweit wir dazu bereit sind und es mit uns selbst gut vereinbaren können. Idealerweise treffen wir uns in der Mitte und für beide Seiten ist es dann ein klares JA zur Sache bzw. zueinander. So funktionieren Kompromisse (keine faulen!), Lösungsfindungen und Beziehungen!
Also sollten wir zu jedem Zeitpunkt, in dem wir uns entscheiden, uns unseres „JEINs“ bewusst sein. Wir sollten uns klar machen, zu was wir NEIN und zu was wir damit gleichzeitig JA sagen.
In den vorangegangenen Beispielen gesprochen:
- Ich habe mich für dieses Jobangebot entschieden, weil ich die Arbeitszeiten mit meinem Familienleben vereinbaren kann und gegen das andere, weil es da nicht klappen würde. –> Ich habe mich also für meine Familie entschieden.
- Ich habe mich für dieses Auto entschieden, weil ich den Preis fair finde und gegen das andere, weil ich mich abgezockt fühle. –> Ich habe mich also für eine faire Preisverhandlung entschieden, weil Fairness für mich ein wichtiger Wert ist.
- Ich habe mich für meinen Mann entschieden, weil ich ihn tief in meinem Herzen liebe und gegen die 1000 anderen Anwärter, weil ich nicht glaube, nochmal so eine tiefe Liebe zu verspüren. –> Ich habe mich also für mein Herz und mein Gefühl entschieden.
- Ich habe mich für den Streit mit meinen Nachbarn entschieden, weil es mir wichtig ist, dass sie sich an die Hausregeln halten und gegen ein Wegschauen, weil ich ihre rücksichtslose Art nicht länger hinnehmen möchte. –> Ich habe mich also für mehr Rücksichtnahme im Umgang miteinander entschieden, weil mir das wichtig ist.
Wenn wir uns bewusst werden, WOFÜR wir uns entscheiden, geschehen zwei wunderbare Dinge. Erstens lenken wir unseren Blick vom Negativen auf das Positive, was unserem System in allen Bereichen gut tut. Wenn wir unsere positiven Motive dann auch noch dem Gegenüber mitteilen, entsteht ein konstruktiver Austausch und das NEIN wird nicht mehr als reine Ablehnung empfunden. Und zweitens verspüren wir eine stärkere Selbstwirksamkeit, weil wir die Entscheidung nicht nur als Vermeiden oder Ablehnen (passiv geprägt) wahrnehmen, sondern als Gestalten unseres Umfeldes bzw. unseres Lebens (aktiv geprägt) empfinden. Auch das stärkt unser System auf allen Ebenen!
Jede unserer Entscheidungen hat wie jede Medaille zwei Seiten und es liegt an uns, die für uns gewinnbringende zu sehen!
Wenn es Euch immer wieder mal schwer fällt, diese zu erkennen, stehe ich Euch gerne unterstützend zur Seite!